Zwischen Sichtbarkeit und Erschöpfung
- Mandy Hindenburg
- vor 18 Stunden
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 43 Minuten
Warum uns Wertschätzung, Begegnung und Struktur fehlen.

Es gibt diese Phasen, in denen so vieles gleichzeitig geschieht, dass man kaum hinterherkommt, es zu sortieren, geschweige denn in Worte zu fassen. Der Kopf ist voll, die Gedanken springen, der Kalender quillt über. Und doch bleibt am Ende eines langen Tages oft nur das leise Gefühl zurück, nicht wirklich sichtbar zu sein.
In der vergangenen Woche wollte ich einen Blogbeitrag über Diversität schreiben. Es war der Tag der Vielfalt, und aus allen Richtungen kamen starke Stimmen, klare Positionen und wichtige Perspektiven. Ich selbst hatte parallel an der Gleichstellungs- und Selbstbestimmungserklärung für die Kommunalwahl gearbeitet und am Wahlprogramm von Volt Essen mitgeschrieben, zwei Texte, die tief verankert sind in meinem politischen Verständnis von Gerechtigkeit, Teilhabe und Respekt.
Dieser Moment der inhaltlichen Verbindung fühlte sich stimmig an. Es war alles da, was einen guten Text ausmacht: die Aktualität, die Relevanz und die eigene Erfahrung. Doch bevor ich den Artikel veröffentlichen konnte, war er versehentlich gelöscht und mit ihm auch der Zugang zu dem Gefühl, das mich beim Schreiben begleitet hatte. Und so verflog nicht nur der Text, sondern auch der innere Antrieb, ihn noch einmal von vorne zu beginnen.
Stattdessen hat sich ein anderes Thema langsam in den Vordergrund geschoben. Eines, das nicht laut daherkommt, sondern sich vielmehr in Zwischentönen zeigt. Ich bin aktuell Wahlleitung im BPW Germany, wir stehen kurz vor der Bundesvorstandswahl. Ein Prozess, der Klarheit, Struktur und Vertrauen braucht. Doch was mich in den letzten Tagen beschäftigt, ist nicht die Wahl an sich, sondern das Verhalten einzelner Akteurinnen.
Zwölf Wochen vor der Wahl haben wir die Kandidierenden vorgestellt. Kurz danach wurde hinter den Kulissen begonnen, eine weitere Kandidatur aufzustellen, nicht aus eigener Motivation heraus, sondern mit dem erklärten Ziel, eine andere Frau aus dem Rennen zu drängen. Es wurde schlecht geredet, es wurde mobilisiert, es wurde auf eine Art kommuniziert, die mich an eine Zeit erinnert hat, die ich längst hinter uns geglaubt hatte.
Wir hatten früher beim BPW Germany Jahre, in denen Tonalität und Miteinander wirklich im Tiefpunkt verankert waren. Es wurde gestritten, laut diskutiert, mit verbalen Härten gearbeitet, die wenig mit einem wertschätzenden Netzwerk zu tun hatten. Diese Phase haben wir mit viel Einsatz überwunden. Heute steht der Verband für eine starke feministische Außenwirkung, für ein Miteinander, das Unterschiede nicht nur akzeptiert, sondern als Stärke begreift. Und gerade deshalb trifft mich diese Entwicklung besonders.
Ich frage mich, was passiert, wenn wir auf solche Muster nicht reagieren. Was bedeutet das für unser Netzwerk, wenn persönliche Angriffe und destruktive Dynamiken wieder Raum bekommen? Und wie kann ich als Wahlleitung einen solchen Prozess begleiten, ohne dabei meine Haltung zu verlieren?
Denn während wir im Kleinen darum ringen, unsere Werte und unsere Haltung zu verteidigen, beobachten wir im Großen, dass genau diese Werte zunehmend unter Druck geraten. Nicht nur in Netzwerken und Verbänden, sondern auf globaler Ebene. Entwicklungen, die in Amerika ihren Anfang nehmen, wirken längst bis in unsere Unternehmen, unsere politischen Räume und unsere alltäglichen Strukturen hinein. Was mich beunruhigt, ist nicht allein der Richtungswechsel, sondern das Tempo, mit dem sich ganze Organisationen, auch bei uns, diesem Kurs anschließen.
Man fragt sich: Haben Unternehmen wie SAP, die viele Jahre für Diversität, Gleichstellung und eine wertebasierte Führung eingestanden sind, all das nur als Image getragen? Wenn sich nach Jahren bewusster Arbeit, nach sichtbaren Erfolgen und einer Vorbildrolle für andere Unternehmen plötzlich ein Rollback vollzieht, dann entsteht ein tiefes Misstrauen. Es bleibt der Eindruck, dass all die Programme, die Dialoge, die Veränderungsstrategien vielleicht doch nicht aus Überzeugung geboren wurden, sondern aus einem Zeitgeist heraus, den man nun ebenso bereitwillig wieder abschüttelt.
Und SAP ist da kein Einzelfall. Wir sehen diesen Rückschritt an vielen Stellen. In der Wirtschaft, in der Politik, in gesellschaftlichen Strukturen, die gerade erst begonnen hatten, sich für andere Perspektiven zu öffnen. Und so sehr ich Veränderungen bejahe, diese Form des Zurückruderns wirft Fragen auf. Wurden all die Bemühungen der letzten Jahre wirklich ernst gemeint? Oder waren sie nur Reaktionen auf äußeren Druck, auf gesellschaftliche Erwartung, auf politische Korrektheit?
Wenn dem so ist, dann haben wir nicht nachhaltig gewirkt. Dann haben wir nicht überzeugt. Und genau das ist der Punkt, an dem ich innehalte und mich frage: Was hätten wir anders machen müssen? Oder vielmehr: Was müssen wir jetzt tun, um zu verhindern, dass diese Rückwärtsbewegung weiter Raum gewinnt?
Während ich mir diese Fragen stelle, tobt das Leben weiter. Bei Volt Essen stehen wir mitten in der Sammlung der Unterstützungsunterschriften. In 41 Stadtteilen wollen wir es auf die Wahlzettel schaffen, ein ambitioniertes Ziel, das nur mit viel Engagement und Aktivierung gelingt. Die Tage sind geprägt von Gesprächen, Listen, Ortsbegehungen. Ich erlebe, wie viel Zeit und Kraft es kostet, Menschen zum Mitmachen zu bewegen und wie sehr Sichtbarkeit auch hier zur zentralen Aufgabe wird.
Aber Sichtbarkeit bedeutet eben nicht nur, präsent zu sein. Sie bedeutet auch, Position zu beziehen. In Gesprächen mit Essener Bürgerinnen und Bürgern höre ich immer wieder die gleichen Themen: das Gefühl, vergessen zu werden. Die Barrierefreiheit, die fehlt. Die Begegnungsorte, die verschwunden sind. Die Bänke, die nicht mehr da sind. Es sind keine großen Forderungen. Es sind einfache Dinge. Und dennoch passiert zu wenig.
Ich höre von älteren Menschen, die nicht mehr spazieren gehen, weil sie sich nirgendwo ausruhen können. Ich höre von Jugendlichen, die ihre Zeit in virtuellen Räumen verbringen, weil es keine realen mehr gibt, in denen sie sich willkommen fühlen. Ich höre von Eltern, die verzweifelt nach bezahlbaren Freizeitangeboten suchen. Und ich höre von Ehrenamtlichen, die Projekte stemmen möchten, aber an Raummangel, Bürokratie und Kosten scheitern.
Ich selbst versuche gerade, einen Verein zu gründen, um genau solche Themen sichtbar zu machen. Ich möchte ein Barcamp organisieren, das niedrigschwellig Menschen zusammenbringt, die ihre Stadt lebenswerter gestalten wollen. Doch selbst das scheitert bislang daran, dass ich keine bezahlbare Räumlichkeit finde.
Und das wirft für mich eine zentrale Frage auf: Wenn ehrenamtliches Engagement die Basis für gesellschaftliche Entwicklung sein soll, warum machen wir es dann den Engagierten so schwer? Warum fördern wir nicht gerade diese Projekte, die Begegnung ermöglichen, Teilhabe schaffen und Orientierung geben? Warum erleben wir stattdessen Blockaden, Kostenhürden und fehlende Ansprechpersonen?
Hinzu kommt: Ich stehe mitten in den Wechseljahren. Mein Körper verändert sich. Mein Energielevel schwankt. An manchen Tagen kostet es enorme Überwindung, ins Tun zu kommen. Und genau dann fühle ich, wie sehr unser System auf ständige Leistungsfähigkeit ausgerichtet ist. Es bleibt kaum Raum für Pausen. Für Regeneration. Für das Eingeständnis, dass man nicht immer kann.
Ich habe ein Buch, das auf mich wartet. Rezepte, die gekocht werden wollen. Ideen, die umgesetzt werden möchten. Und gleichzeitig ist da diese innere Bremse. Nicht weil ich nicht will, sondern weil ich gerade nicht alles auf einmal kann.
Vielleicht ist dieser Blogbeitrag genau deshalb wichtig. Weil er kein Hochglanzthema verfolgt, keine strahlende Heldengeschichte erzählt. Sondern weil er zeigt, wie sich viele von uns gerade fühlen. Zerrissen zwischen Engagement und Erschöpfung. Zwischen Gestaltungskraft und Grenzen. Zwischen Sichtbarkeit und der Sehnsucht nach Struktur.
Und vielleicht ist das auch der Appell: Lasst uns wieder mehr Räume schaffen, in denen Menschen einfach Mensch sein dürfen. In denen man zuhören kann, ohne sofort zu werten. In denen man sich begegnet, ohne sich erklären zu müssen. In denen neue Ideen entstehen dürfen, auch ohne Kapital, ohne Perfektion, ohne Druck.
Denn Sichtbarkeit entsteht nicht durch Lautstärke. Sie entsteht durch Haltung. Und Haltung beginnt da, wo wir einander wieder wahrhaftig begegnen.
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